Das Zeichen der Muschel macht klar, dass man sich hier und jetzt auf einem Abschnitt jenes ausgedehnten Wegenetzes befindet, das ganz Europa wie ein Geflecht durchzieht und das immer gen Westen weist, nur ein Ziel kennend: die Kathedrale im galicischen Santiago de Compostela, im äußersten Westzipfel Kontinentaleuropas, am Ende der Welt, wie man früher sagte – von Trier exakt 2000 Autobahnkilometer entfernt.
Genauer gesagt ist das Ziel der Pilgerfahrt aber nicht eigentlich die Kathedrale von Santiago, sondern das Grab des Apostels Jakobus in der Krypta dieser Kirche. Der Apostel Jakobus, dessen Fest die Kirche am 25. Juli feiert, ist es auch, der der Stadt und den Pilgerwegen dorthin seinen Namen aufgeprägt hat: Santiago, Camino de Santiago, Chemin St. Jacques, Jakobuspilgerweg, Jakobsweg
Jakobus und der Jakobsweg – ein kurzer historischer Rückblick
Zusammen mit seinem Bruder Johannes gehört Jakobus neben Andreas und Simon Petrus zu den erstberufenen Jüngern Jesu (Mt 4, 21; Lk 5, 10). Jakobus ist zusammen mit Petrus und Johannes auf dem Berg der Verklärung (Mt 26, 37), als Jesus mit Elija und Mose spricht und auch im Garten Getsemani (Mt 17, 1). Jakobus und Johannes erhalten von Jesus wegen ihrer ungestümen Wesensart den aramäischen Beinamen Boanerges, was Donnersöhne bedeutet (Mk 3, 17; vgl. Lk 9, 54). Nach der Auferstehung befindet sich Jakobus mit den anderen Aposteln in Jerusalem (Apg 1, 13). Als erster der Apostel erleidet Jakobus während der Herrschaft des Herodes Agrippa I. (41-44 n. Chr.) das Martyrium (Apg 12, 1f).
Nach einer, für den Jakobuskult in Santiago de Compostela grundlegenden, Überlieferung übergaben seine Jünger den Leichnam des Apostels nach der Enthauptung einem Schiff ohne Besatzung, das später in Galicien im Nordwesten Spaniens anlandete. Helfer setzten ihn weiter im Landesinneren, im heutigen Santiago, bei. Dann geriet das Grab in Vergessenheit. Der historische Nachweis dieser Überlieferung ist bisher nicht gelungen. Sicher ist jedoch, dass nach der „Wiederentdeckung“ des Grabes im 9. Jahrhundert darüber eine Kapelle, später eine Kirche und schließlich die Kathedrale errichtet wurden, um die herum sich der Pilgerort Santiago de Compostela entwickelte und zu der die Jakobswege führen.
Seit dem späten 9. Jahrhundert wurde dem Apostel, der sich zum spanischen Nationalheiligen entwickelte, zunehmend auch eine militärische Funktion zugeschrieben. König Alfons III. von Asturien (866-910) führte seine Siege auf das Eingreifen des Heiligen zurück. Aber nicht nur für das christliche Spanien war Jakobus bedeutsam. Die Reliefs auf dem Karlsschrein in Aachen zeigen, wie eine funkelnde Milchstraße Karl dem Großen im Traum den Weg nach Santiago weist. Diese Vision führte nach einer Deutung auch zur Bezeichnung der Pilgerstraße als „Sternenweg“. Der Spanienfeldzug Karls (mit der später im Rolandslied episch ausgestalteten Niederlage seiner Nachhut bei Roncesvalles) diente so der Befreiung des „Sternenwegs“ von den Mauren. Jakobus „Matamoros“, der Maurentöter, wurde zur spirituellen Symbolfigur der Reconquista, der christlichen Rückeroberung des islamischen Spanien, die sich bald mit der Kreuzzugsbewegung verband.
Nach und nach entwickelte sich eine große Pilgerfahrt zu diesem Ziel, bei dem es sich im Mittelalter um kein Randphänomen gehandelt habenkann. Und in der Tat kann man sagen: Zu ihren Blütezeiten war halb Europa aufPilgerfahrt. Man schätzt für das 12.-14. Jahrhundert Jahr für Jahr etwa eine
halbe Million Jakobspilger. Bei einer Gesamtbevölkerung Europas von 40 bis 70
Millionen tatsächlich eine gesellschaftliche Massenbewegung. Hinzu kamen noch
die Pilgerfahrten zu den älteren und eigentlich bedeutenderen, aber aus
verschiedenen Gründen nicht mehr so populären Pilgerzielen Rom und Jerusalem.
Im späten Mittelalter und gründlich seit Beginn der Neuzeit gerieten die
klassischen Fernwallfahrten dann aber zunehmend in Verfall.
Des Pilgers unverhoffte Wiederkehr
Seit einigen Jahren kommen sie wieder, die Jakobspilger. Eine gänzlich unerwartete Entwicklung, die Europa und speziell Deutschland auch schon vor dem Erscheinen des Buches von Hape Kerkeling im Jahr 2006 erfasst hatte. Auf den vielen Pilgerstraßen in Deutschland und im nordöstlichen Frankreich fallen die Pilger zunächst noch nicht weiter auf, sind sie doch in der Regel – im Unterschied zu den Matthiaspilgern – einzeln oder höchstens in kleinen Gruppen unterwegs. Erst wenn in den französischen Städten Tours, Vézelay, Le Puy, und Arles die vier Hauptwege beginnen, fließen die Rinnsale allmählich zu Bächen zusammen, um sich dann jenseits der Pyrenäen in Puente la Reina zum großen Strom des „Camino Francés“ zu vereinen. In der „Hochsaison“ der Pilger, im Juli und August kann sich dieser Weg in eine wahre „Ameisenstraße“ verwandeln: Pilger, soweit das Auge reicht. Wurden im Jahr 1990 in Santiago 5000 ankommende Pilger registriert, wobei hier nur diejenigen gezählt werden, die zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Pferd unterwegs sind, so kamen im Jahr 2012 schon 192.488. Und ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen. Die meisten Pilger stammen aus Spanien selbst, die Deutschen stellen inzwischen die zweitgrößte Gruppe und haben den Italienern damit vor zwei Jahren den Rang abgelaufen. Hier zeigt er sich dann wohl doch, der deutsche „Hape-Kerkeling-Pilger-Boom“.